Rote Karte für Zidane – da fehlt doch etwas!
Achtung: Keine Rechtfertigung von Wutanfällen
WM Finale 2006: Erinnern Sie sich an den Kopfstoß von Zinédine Zidane? Gegen den Brustkorb seines italienischen Gegenspielers Materazzi! Der Schiedsrichter hatte diese Szene zwar nicht gesehen. Darauf aufmerksam gemacht, zückte er jedoch sofort die Rote Karte. Die war mehr als gerechtfertigt, keine Frage. Aber da fehlt doch etwas, oder?
Szenenwechsel: Erinnern Sie sich an den Wutanfall von Berthold Heisterkamp („Ernie“ genannt) in der Serie „Stromberg”, erste Staffel, dritte Folge? Wohl weniger! Aber schauen Sie mal rein in Minute 23.45! Auch hier, würde jeder ohne Zögern sagen: Rote Karte für Ernie! Aber da fehlt doch etwas, oder?
Szenenwechsel: Ihre Kollegin / Ihr Nachbar / die Freundin Ihrer Tochter rastet aus. Rote Karte? Natürlich! Aber da fehlt doch etwas, oder?
Hat Zinédine Zidane vor Lust an der Freude den Kopfstoß ausgeführt? Hat Ernie vor lauter Glück seinen Wutanfall gehabt? Ist Ihre Kollegin / Ihr Nachbar / die Freundin Ihrer Tochter ausgerastet, weil das so viel Spaß macht? Nein. Da fehlt doch etwas!
Lassen Sie uns mal Ursachenforschung betreiben. Keine Sorge: Ich will die Wutanfälle hier nicht rechtfertigen. Jeder der Genannten, ja jeder Mensch ist verantwortlich für seine Wutanfälle. Doch den Wutanfällen ist etwas vorangegangen. Wissen Sie, was?
Warum wurde Zinédane Zidane tätlich? Weil sein Gegenspieler ihn zuvor beleidigt hatte. Wollen Sie wissen, wie? Wirklich? — Okay, wenn Sie unbedingt wollen! So: „Ich ziehe deine Schwester vor, die Nutte“ hatte Materazzi Zidane gegenüber gesagt, als dieser auf das Zupfen an seinem Trikot hin gesagt hatte „Nach dem Spiel kannst du mein Trikot haben.“ Das verändert die Perspektive, oder? Was fehlt, ist – richtig, eine Rote Karte für Materazzi. Der durfte weiterspielen!
Zu Szene 2: Warum wurde Berthold Heisterkamp aggressiv? Weil er zuvor von seinem Kollegen Ulf Steinke mehrfach geärgert und auf übelste Weise vor den Kollegen gedemütigt worden war. Was fehlt, ist – genau, eine Rote Karte für Ulf Steinke.
Und was ist mit Ihrer Kollegin / Ihrem Nachbarn / der Freundin Ihrer Tochter? Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Sie zuvor von einer anderen Person bis zur Weißglut geärgert wurden – die Freundin Ihrer Tochter vielleicht sogar von Ihrer Tochter! Was fehlt, ist – es tut mir leid, eine Rote Karte für Ihre Tochter!
Wissen Sie, wie Salomo das Verhalten von Materazzi, Ulf Steinke und Ihrer Tochter einstuft? Als Körperverletzung! Ja, als Körperverletzung! Im wahrsten Sinne des Wortes!
„Die Worte eines Unüberlegten sind wie Schwertstiche, …”
(Salomo: Sprüche 12,18)
Ist das nicht übertrieben? Ich finde, nicht! Darf ich etwas Persönliches sagen? Auf mich haben hässliche Worte mir gegenüber schon gewirkt wie Messerstiche! Sie haben mir körperlich wehgetan. Furchtbar wehgetan. Messerstiche! MESSERSTICHE!
Ich fürchte, Ihnen ist es auch schon so ergangen. Jedem von uns ist es schon so ergangen.
Also, wenn Sie Salomo fragen würden: Er würde das Verhalten von Materazzi schlimmer als das von Zidane einstufen (Schwertstich gegen Kopfstoß!), das Verhalten von Ulf schlimmer als das von Ernie (Schwertstich gegen Verstümmelung einer Puppe!) und so weiter. Eine rote Karte für Zidane, ja! Und zwei Rote Karten für Materazzi. Und obendrein eine lebenslängliche Spielsperre (und nicht etwa eine lachhafte Sperre für zwei Spiele, zu der er im Nachhinein verurteilt wurde).
Warum ich diesen Artikel schreibe? Aus zwei Gründen.
Mein erstes Ziel: Dass Sie und ich hinter die Wutanfälle schauen. Nicht immer, aber häufig ist ein noch hässlicheres Verhalten die Ursache.
Mein zweites Ziel: Dass Sie und ich vorsichtig sind mit unseren Worten. Dass wir nicht mit unseren Schwertstichen Ursache sind für die Wut von anderen. Ich hoffe, auf uns beide trifft eher das zu, was Salomo im zweiten Teil des Spruches sagt:
„… die Worte der Weisen sind Heilung.”
(Salomo: Sprüche 12,18)
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Richard -
Leider sind Menschen, die einseitige “Wahrheiten” anzweifeln, stark in der Minderheit. Das große Heer an “Wissern” braucht keine Hintergründe.
Solche Ihrer Beispiele würden auch an Schulen jungen Menschen etwas mitgeben, das sie sonst möglicherweise nie von den “Wissern” erhalten werden.
Sonnige Grüße aus Salzburg!
Frank Steinbach -
Was haben Materazzi und Chiellini gemeinsam?
Beide sind italienische Verteidiger
Beide haben bei einer WM einen Topstar so zur Weißglut gebracht, daß es zur Tätlichkeit kam (Chiellini wurde bekanntlich von Luis Suarez gebissen)
Beide kamen ungeschoren davon
Sind die Strafen für die körperlichen Übergriffe gerechtfertigt? Ich finde schon.
Sind die Medialen Hetzjagden angemessen? Ich denke, wenn sich mehr Menschen für die Hintergründe von Taten interessieren würden, dann wären die Berichte besser. So wie dieser.
Was mich auch noch interessieren würde (ad radikaler Islam): “Eine Mutter sprengt sich selbst an einem öffentlichen Platz in die Luft” – Da fehlt doch auch was, oder?
Barbara -
Wie Recht Sie haben! Ich habe mal zu meinem damals 17jährigen Sohn gesagt: “Ich habe dich nie geschlagen!” Da hat er geantwortet: “Doch. Mit Worten!” Das hat mich getroffen, weil ich wusste, dass er Recht hatte. Heute überlege ich zweimal, was ich in der Wut sage und wenn ich es tatsächlich nicht merh kontrollieren konnte – ich bin ein Mensch – dann entschuldige ich mich sofort.
Inken -
Der Artikel spricht mir aus der Seele! Selbstverständlich darf einem Profi so etwas nicht passieren. Aber Niemand setzt ein großes Ziel derart fahrlässig aufs Spiel, wenn nicht vorher etwas Gravierendes vorgefallen ist.
Nichts passiert “sine causa”. Leider waren bislang die Wenigsten meiner Meinung.
Michael Weber -
Hallo Herr Lengen,
vielen Dank für diesen gutgeschriebenen Text. Er macht die Fehler deutlich zu denen wir scheinbar alle häufig neigen. Mir Ihren Worten erhellen sie die Situationen sehr gut und regen an, manchmal etwas mehr nachzudenken und sich nicht immer mit der “augenscheinlichen Erklärung” abzufinden. Das finde ich sehr wertvoll und hilfreich! Ich wünsche mir und uns allen noch viele solcher tollenTexte von Ihnen. Nochmals herzlichen Dank.